Die neue Zeit


Am Morgen des 15. September 1806 soll sich im Hause Merkel unter dem Geläut der Nürnberger Glocken – wenn auch nicht historisch verbürgt – folgendes zugetragen haben: Die Kaufmannsfrau fiel ihren Kindern weinend um den Hals und sagte: “Ihr armen Kinder, nun seid ihr Fürstenknechte!“ Nürnberg wird bayrisch. Nicht nur die erste deutsche Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth 1835, die gesamte Entwicklung Nürnbergs nimmt einen rasanten Verlauf – so auch St. Egidien: Die Pfarrerkirche wird erstmals Kirchengemeinde.

Allein zwischen 1895 und 1900 wächst die Stadt um 100 000 Einwohner. Der sagenhafte Kinderanteil lässt die Schulen sprießen. Die großen Schulpaläste, vor denen wir Nachkriegskinder noch mit bebendem Herzen standen, verkörpern auch das Bildungsgefälle zwischen der Nord- und Südstadt. Im Süden gibt es 20 Volksschulen und eine Oberrealschule.
Die Südstadtgoogerer bringen es allenfalls bis zum Hauptschulabschluss, während der Norden boomt.

In Fortsetzung seiner großen Bildungstradition entsteht rund um den Egidienberg eine neue Nürnberger Schullandschaft. Nach einer grundlegenden Reform wird der berühmte G. F. W. Hegel Rektor des Gymnasiums, das 1911 in die nahe gelegene Sulzbacher Straße (heute Melanchthongymnasium) auswandert und einem naturwissenschaftlichen Realgymnasium (heute Willstättergymnasium) Platz macht.

Unten an der Pegnitz entsteht 1823 das Kgl. Bayerische Technikum (heute Georg-Simon-Ohm-Fachhochschule) und 1854 – Nürnbergs erste Mädchenschule! – die kath. Ordensschule der Englischen Fräulein (heute Maria-Ward-Schule).

Oben am Maxtor werden 1832 die Handelsgewerbeschule (heute Johannes-Scharrer-Gymnasium) und 1918 eine Handelshoch-
schule (heute WiSo-Fakultät) gegründet, daneben finden „Höhere Mädchenschulen“ (heute Labenwolf-Gymnasium), später auch die evang. Wilhelm-Löhe-Schule Platz, dahinter 1908 eine weitere Oberealschule (heute Hans-Sachs-Gymnasium). Fach- und Fachoberschule gliedern sich unterhalb der Burg an.

Der von Bildungseinrichtungen nur so umwarzte Egidienberg lebt bis heute von einer topographischen Resistenz. Plätze, Kirchen, Straßenzüge – die Integrationspunkte und Fluchtlinien der mittelalterlichen Stadt – bleiben sich über Jahrhunderte treu und prägen das Stadtbild.

Nur das Judenviertel am Fuß des Egidienberges wird uns für immer fehlen. Die Stadt der Reichsparteitage, Rassengesetze und Kriegsverbrecherprozesse ist dabei, ihre letzte und größte Katastrophe Stück für Stück aufzuarbeiten. Die Stellung zum Judentum und zum Holocaust ist zum Maßstab unseres Geschichts- und Weltbildes geworden. Nürnberg wird bunt, wenn nicht zuletzt auch die Kirchen an der Aufklärung ihrer selbstverschuldeten
Unmündigkeit engagiert mitarbeiten.